
Kafka lebt in Köln – eine wahre Geschichte zum Jahreswechsel
Kennen Sie Kafka? Was für den einen der Schreck seiner gymnasialen Oberstufen-Deutschstunden war, ist für den anderen der Visionär, der unser Bürokratie- und Computerzeitalter beschrieben hat, lange bevor es Wirklichkeit geworden ist. Franz Kafka hat die moderne Welt schon am Anfang des 20. Jahrhunderts als anonymes, nicht durchschaubares Bürokratie-System dargestellt. Bei ihm heißen die verschlossenen Institutionen oder Verfahren, denen der Einzelne ausgeliefert ist, das Schloss oder der Prozess. Nun ist Kafka seit 1924 tot. Sein Geist ist es wohl nicht. Man könnte jedenfalls meinen, sein geistiges Erbe würde mit allzu großer Praxisnähe in Köln verwaltet. – Hier ist eine nur leicht komprimierte, wirklich-wahre Brief-Geschichte aus der erstaunlich realen Märchen-Welt einer hochgradig dysfunktionalen Bürokratie und einer nicht kontrollierbaren Automaten-Willkür mitten in unserer Republik. Man glaubt so etwas „Kafkaeskes“ wohl erst, wenn man es selbst erlebt hat.
Es war einmal ein ganz gewöhnlicher Bürger, nennen wir ihn in guter Tradition K. Eines Tages, bald 15 Jahre nach der Jahrtausendwende, zog K. um, von der Großstadt aufs Land, irgendwo im hohen Norden. Wie es sich für einen braven deutschen Bürger gehört, meldete er sich ab und an, nicht nur bei den Ordnungsämtern von Stadt und Gemeinde, sondern auch bei der im Volke seit ewigen Zeiten schon verschrienen Riesenbehörde mit dem vielsagenden Namen „ARDZDFdeutschlandradioRundfunkbeitragsservice“ – oder so ähnlich.
Ein Jahr lang lebte K. sein gemütliches kleines Land-Leben. Dann kam der erste Brief: DIE BEHÖRDE verlangte für mehr als ein Jahr rückwirkend einige Hundert Euronen von ihm. Upps, dachte der arglose K., die haben meine Abmeldung damals nicht richtig registriert und glauben, ich hätte jetzt zwei Wohnsitze. Aber ein Blick in seine Unterlagen bestätigte ihm: Einen im ersten Anlauf im Kölner Behörden-Schloss gemachten kleinen Zuordnungsfehler der verbleibenden Beitragskonten der Familie hatte die Behörde schnell korrigiert und ordentlich schriftlich mitgeteilt. Was aber nun? Nach Meinung der Behörde lebt die Person K. nach wie vor oder plötzlich wieder an der alten Adresse. Offenbar hatten die geheimnisvollen, zur Luhmannschen Selbstschöpfungs-„Autopoiesis“ fähigen Computer in den Kellern des Behördenhauses einfach ein neues Beitragskonto mit einem schönen runden Startdatum (einem ersten Januar) erfunden und auf den Namen von K. eingerichtet – natürlich rückwirkend gebührenpflichtig, mit der alten Adresse als Wohn- und der neuen Adresse als Rechnungsadresse. Erstaunliche Erfindung, dachte K., aber das kann ich leicht abschließend richtigstellen. Und schrieb eine E-Mail, in der er sogar auf die vorliegende Abmeldebescheinigung der lokalen Meldebehörde mit Beleg-Nachweis verwies. Und er vergaß diese seltsame Geschichte, zumindest für einige Wochen.
Dann lag der nächste Brief im Kasten. Kein Wort zu den richtigstellenden Erklärungen K.s, stattdessen eine erneute Zahlungsaufforderung. Der geforderte Betrag hatte sich inzwischen auf geheimnisvolle, nicht dargelegte Weise erhöht. Nun wurde K. wirklich ärgerlich und verfasste eine formale Zurückweisung jeglicher Forderung samt der Aufforderung, weitere Belästigungen auf der Basis frei erfundener Beitragskonten zu unterlassen. Das schien zu helfen. Monatelang ging K. seiner Wege und seinen Geschäften nach. An DIE BEHÖRDE verschwendete er keinen Gedanken mehr.
Bis eines Tages erneut eine Zahlungsaufforderung im Briefkasten lag. Einfach so, rein formal vom Rechnungscomputer ausgespuckt, ohne irgendeine Reaktion auf K.s erst wohlwollend-richtigstellende, dann harsch zurückweisende schriftliche Eingaben. Ein letztes Mal raffte K. sich zu einer diesmal streng formalen und etwas sarkastischen schriftlichen Erwiderung auf – mit dem Hinweis, weitere Schreiben von DER BEHÖRDE nicht mehr anzunehmen bzw. zu lesen oder gar zu beantworten. Danach war Ruhe. Ein paar Monate lang war die seltsame Verschwörung einer unerreichbaren Computermacht gegen K. für ihn nicht mehr präsent.
Da, kurz vor dem Ende des Kalender- und Briefwechsel-Jahres, sieht K. wieder einen dieser Behörden-Umschläge mit dem seltsam verwirrten und verwirrenden ARDZDFusw.-Logo in seinem Briefkasten. Was tun? Wegwerfen? Ungelesen? Der Neugier nachgeben und lesen? K. bewahrt den Brief geschlossen auf und fängt an, über die systemische Macht nachzudenken, die Superbehörden oder ihre von Menschen offenbar nicht mehr gesteuerten oder steuerbaren Computersysteme über unzählige Einzelne nur dadurch haben, dass sie sie zwingen, sich mit ihnen zu beschäftigen – und sei es durch das gottgleiche Erfinden oder Umschreiben von Identitäten. K. erinnert sich an Kafkas Geschichten von unheimlichen Mächten. Er liest insbesondere im „Prozess“ nach, wo der Romanheld K. niemals herausbekommen kann, wessen oder warum er überhaupt angeklagt wird oder worden ist. Unser K. entscheidet, sich diese absurde Geschichte von der doch etwas unruhig gewordenen Seele zu reden. Aus seinem Bericht entstand diese kleine Kolumne, Fortsetzung womöglich zu erwarten.
Und die sprichwörtliche Moral von der Geschicht'? Vergiss du nur den Kafka nicht. Denn Kafkas Geist lebt. Er ist – über Raum und Zeit hinweg – umgezogen, ins Köln des 21. Jahrhunderts, ins ARDZDFusw.-Behördenschloss. Zum Glück ist hier allerdings nicht damit zu rechnen, dass die Dauerposse zum Tode des K. führen wird. Immerhin ein wesentlicher Unterschied zu Kafkas poetischer „Prozess“-Vision, die ansonsten von unserer systemischen Wirklichkeit längst eingeholt und überholt worden ist. – Für heute bleibt der gute Wunsch zur Silvesternacht: Möge die Macht im neuen Jahr – wie im Kino – mit uns, den lebendigen Individuen, sein!