
SelbstbeSPIEGELung ex negativo
Unser aller liebstes Nachrichtenmagazin hat sich eine neue Leitbotschaft gegeben. Aber was sagt der neue "Spiegel"-Claim wirklich aus?
"Thjnk" (ja, mit "j") heißt die Kreativ-Agentur, die dem wichtigsten Leitmedium der Republik einen neuen Leitsatz geschenkt hat. Was man sich dabei so alles gedacht hat, verkündet das Blatt in der dankbar berichtenden PR-Fachpresse vorab und im eigenen Magazin in der Hausmitteilung der aktuellen Ausgabe. Es komme, so lassen sich die Aussagen zusammenfassen, heute nicht mehr darauf an, den "Spiegel"-Leser zum Wissen zu führen. Immerhin 40 Jahre hatte der alte Schlaumeier-Claim gehalten: "SPIEGEL-Leser wissen mehr." Im Web-Zeitalter, in dem das Wissen (gemeint ist: die Information) jederzeit jedermann zugänglich sei, gehe es nun vielmehr darum, dem Leser ein "Kompass und Filter" zu sein. Vom Wissensführer zum Wahrheitsführer, sozusagen. Das also soll der neue Kampagnen-Dauer-Claim "Keine Angst vor der Wahrheit" ausdrücken, jedenfalls nach Meinung der Magazin-Werbeabteilung.
Aber was sagt uns dieser Satz "wirklich", wenn wir ihn auf uns wirken lassen - und analytisch beurteilen?
Zunächst fällt da natürlich der offenbar intendierte Wechsel vom Wissens- zum Wahrheitsbegriff auf. Damit legt sich das Magazin in Fortsetzung der Schlaumeier-Philosophie der Wissensführerschaft darauf fest, die "richtige" Wissensdeutung anbieten zu können, die sogar den altehrwürdigen Begriff der Wahrheit erhält. Seltsam wirkt das für ein Blatt, das nun wirklich Diskurs- und Meinungsschlachten mit verschiedenen Standpunkten geschlagen hat und schlägt - und das intern angemessen plural agiert, was eine journalistische Qualität ermöglicht, die insgesamt in Deutschland kaum übertroffen wird. Die aufs Verkaufen zielende, rein PR-technische Frage ist zudem: Will der heutige Leser tatsächlich - noch oder wieder - zur Wahrheit geführt werden?
Angst macht keine Freu(n)de
Und dann ist da der Kernbegriff der Angst, der uns anspringt und sogleich in einen Negativ-Kontext ("kein") gestellt wird. Das ist zugleich abgebrüht und ungeschickt gemacht. Abgebrüht, insofern dahinter womöglich ein psychologisch nachvollziehbares Kalkül steht, das eine vorauszusetzende Unsicherheit ("Angst") von Lesern (Empfängern) wie Schreibern (Sendern) in der ultramodernen, auch medialen Stress-Welt zum gemeinsamen Anker- und Ausgangspunkt für die Positionierung und Kommunikation des Medienproduktes "Spiegel" macht. Ungeschickt, weil Negationen unweigerlich negativ wirken, sodass der erhoffte "Angst"-Resonanz-Raum sofort wieder geschlossen wird und eher Ablehnungsgefühle entstehen. Kaum vorstellbar, dass der aufgeklärte oder aufklärungswillige "Spiegel"-Leser bzw. -Interessent das anders erlebt und auf den Wahrheitsverkündungszug aufspringt. Die PR-technische Frage lautet hier: Wurde da nicht genug getestet - oder einfach nicht genug gedacht?
Zu vermuten ist, dass sich hier wie so oft das Auftraggeber-Unbewusste im textlichen Ergebnis der Agentur Ausdruck verschafft. Der Claim wirkt in erster Linie wie ein Aufruf an die eigene Willens- und Vernunftkraft, sich der eigenen Angst vor den Zumutungen der sich verändernden Medien-Welt nicht zu ergeben. Das ist ja aller Ehren wert - nur gehört das eigentlich nicht in einen auf positive Wirkung zielenden PR-Claim. Zumal der "Spiegel" so viele Selbstzweifel gar nicht nötig hätte. Trotz aller internen Kämpfe ist es immerhin gelungen, das führende Nachrichten- und Meinungsmedium in Deutschland zu bleiben. Die Integration von Print- und digitaler Welt ist auch bei weitem besser gelungen als bei Mitbewerbern am Nachrichtenmarkt. Also, liebe "Spiegel"-Leute: Nur keine Angst vor der Wirklichkeit. Ihr packt das.